26.09.2006
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Das Abschiedsgeschenk
Es muss irgendwann im Juni 1987 gewesen sein, als ich Pjotr am Bahngleis 1, dem einzigen Gleis, was der Bahnhof von Žaclér (Tschechische Republik) vorzuweisen hatte, begegnete. Unser erster Kontakt war genauso unspektakulär wie die anschließende Freundschaft (um diesem seltsamen zwischenmenschlichen Konstrukt einen Namen zu geben), die wir nach unserer ersten Begegnung ein gutes Jahrzehnt lang pflegten.
Unweit vom Žaclér Bahnhof gab es eine kleine Absteige, in der Pjotr täglich zur Mittagszeit anzutreffen war. Mir wird heute noch ganz anders, wenn ich an diese Klitsche denke. Noch nie zuvor hatte ich solch eine lausige Kneipe gesehen, geschweige denn betreten. Aber in Anbetracht der Tatsache, dass es in Žaclér weit und breit keine öffentliche Toilette gab, war der Schuppen das Beste, was mir passieren konnte. Früher gab der Laden sicherlich einiges her, aber über die Jahre hinweg fraß ihn sichtlich der Verfall auf. Die gute Eiche, aus der die Inneneinrichtung bestand und die schon lange ihren Glanz und ihre Leuchtkraft verloren hatte, moderte vor sich hin, seitdem den damaligen Besitzer das Zeitliche gesegnet hatte und seine Witwe das Geschäft übernahm. Der Gute hatte sich eines Nachts an einem Balken über der Theke erhängt. Tragischerweise war er nie lange genug nüchtern gewesen, um ein Testament aufsetzen zu können, so dass seine Frau all seine Habseligkeiten erbte, von denen es ohnehin nicht allzu viele gab.
Zu den Stammgästen gehörte neben Pjotr auch ein armer alter Schlucker, dessen Frau in einer Nacht und Nebel-Aktion Žaclér mitsamt den beiden Kindern verließ und nie wieder zurückkehrte. Das ist mittlerweile 30 Jahre her, aber überwunden hatte er sie nie und erneut geheiratet auch nicht. Ich glaube tatsächlich, dass ihn dieses Ereignis tief geprägt hatte, denn ich habe ihn niemals lachen oder mit jemandem reden gehört. Ich zweifele sogar, dass er Verwandtschaft oder Freunde hatte und selbst wenn, so wollten diese sicherlich nichts mit ihm zu tun haben.
Was Pjotr in dieser Absteige zu suchen hatte, ist mir bis heute nicht klar. Wann immer ich ihn danach fragte, antwortete er in gebrochenem Deutsch mit russischem Akzent, dass ihm die Frage zu persönlich sei. Überhaupt war ihm alles irgendwie zu persönlich, was wohl auch erklärt, warum ich nichts über ihn weiß. Makaber, nicht wahr? Da ist man 10 Jahre lang mit jemandem befreundet, dessen richtiges Alter man nicht einmal kennt! Ich denke, er wird heute um die 35 sein, aber wer weiß das schon so genau. Diese russischen Auswanderer sehen schließlich alle gleich aus. Und selbst Sergej, ein alter Bekannter von Pjotr, hatte erstaunliche Ähnlichkeiten mit ihm. Ich fragte ihn sogar einmal, ob er nicht in Wirklichkeit Pjotrs Bruder war und erntete daraufhin lediglich ein seltsames breites Grinsen, was ein derart umfassendes Bild von Zahnverfall präsentierte, wie ich es seither nie wieder sah. Die heutigen Zahnärzte hätten sich zweifelsohne um ihn gerissen und ihm sogar kostenlose Behandlungen angeboten, wenn er nur endlich diese Ruinen aus seinem Mund entfernen und somit seine Umwelt nicht weiter schocken würde.
Ich glaube, Pjotr hatte nie eine Schulausbildung genossen, doch das ist nicht weiter verwunderlich. Kaum jemand in Žaclér hatte mehr als vier Schulklassen hinter sich, eben so viel, wie viel die Grundschulen damals hergaben. Es herrschten ähnliche Zustände wie zur Nachkriegszeit und mich würde es nicht wundern, wenn sich bis heute nichts daran geändert hat. Zigaretten wurden stückweise verkauft, eine ganze Schachtel konnte sich dort eh niemand leisten. Und wenn man Grundnahrungsmittel wie Milch und Brot kaufen wollte, musste man morgens um vier vor dem kleinen Gemischtwarenladen anstehen - dem einzigen, den es in Žaclér gab - und auf genügend Glück hoffen. Glück war überhaupt das einzige, worauf es sich zu hoffen lohnte. Die Zustände waren so miserabel, dass nicht nur die Wirtschaft darunter litt, sondern auch die Lebensfreude. Die Zahl der Selbstmordopfer stieg von Jahr zu Jahr und die Armut der Hinterbliebenen war so eklatant, dass es nicht einmal ein anständiges Begräbnis gab. Die Toten wurden in anonymen Massengräbern bestattet und erhielten nie einen Grabstein.
In all diesem Elend schaffte es Pjotr aber, sich irgendwie über Wasser zu halten, sich sogar ein halbwegs vernünftiges Mittagessen bestehend aus fettigen Bratkartoffeln und Speck leisten zu können. Ich weiß bis heute nicht, wie er das bewerkstelligen konnte. Ich weiß ja noch nicht einmal, wie er ein paar Jahre später einen alten klapprigen Renault organisieren konnte, der uns in unser Glück fahren sollte. Sprit war Mangelware, nahezu unbezahlbar und wurde auf dem Schwarzmarkt in Kanistern, verdünnt mit Wasser, verkauft. Wer das Glück hatte, ein Auto unterhalten zu können, brauchte noch mehr Glück um es mit diesem Gemisch fahrtauglich zu halten. Die Winter in Žaclér waren mehr als eisig, drastische Minusgrade waren da keine Seltenheit und gefrorener Sprit erst recht nicht.
Irgendwie schaffte es Pjotr dennoch all diese Hürden zu überwinden und so fuhren wir 1991 an einem Herbstabend voller Vorfreude und Erwartungen dem Westen entgegen. Der Westen war in diesem Fall nicht etwa ein Land wie Deutschland, nein, der Westen war schlicht und ergreifend alles, was irgendwie westlich lag. Unser Ziel war vorerst Ungarn, Budapest um genauer zu sein. Pjotr hatte dort angeblich einen alten Schulfreund, was ich ihm allerdings nie geglaubt habe. Aber wer auch immer diese Person war, die uns damals empfing, aus irgendeinem Grund kannte sie Pjotr und nahm uns bereitwillig in ihrer kleinen heruntergekommenen Wohnung auf. Wohl hatten wir es nun besser als damals in Žaclér, schließlich gab es hier fließend Wasser und eine funktionierende Toilette anstatt Plumpsklos, aber das Chaos in dem Pjotrs Bekannter wohnte war wirklich eine filmreife Leistung. Darius, der Bekannte, gehörte zu den Typen, die man nur ungern zu seinen Freunden zählen möchte. Er war ein alternativ angehauchter schräger Vogel, der grundsätzlich erstmal gegen alles war, vorzugsweise aber gegen alles, was mit der Gesellschaft und dem System in Verbindung gebracht werden konnte. Die Hackerszene in Budapest stand Anfang der 90er noch auf wackeligen Beinen, aber Darius war bereits mittendrin statt nur dabei. Seine Wohnung war vollgestopft mit irgendwelchem Computerkram, und ließ nur unschwer erkennen, dass er ein Freak war. Wohin man auch blickte, entdeckte man Computer, Fachliteratur, Scherzartikel und alles andere, was die Computerbranche so hergab. Entsprechend seinem Lebensstil und der Inneneinrichtung seiner Wohnung, fiel auch Darius' Äußeres aus.
Es muss Jahre her gewesen sein, dass er einen Frisörsalon von innen gesehen hatte, denn seine Haare hingen unordentlich und zersaust bis über die Schultern in Strähnen herab und deuteten außerdem auf einen eklatanten Mangel an Haarpflegeprodukten wie Kamm oder Bürste hin. Was einst möglicherweise einen 3-Tage-Bart darstellen sollte, war mittlerweile zu einem Gesichtsurwald mutiert, aus dessen Reihen sich lediglich der immer länger werdende Ziegenbart abhob, an dem Darius gerne spielte, wenn er sich auf etwas konzentrierte. Die Brille, die er beim Arbeiten – wie er seine dubiosen Aktivitäten nannte – trug, verstärkte das Bild eines zerstreuten Programmierers, der, um seinen Nachschub an Kaffee gewährleisten zu können, in die Küche geht und bereits auf dem Weg dorthin vergisst, was er da überhaupt wollte. Seinen Lebensunterhalt verdiente er sich mit dem Zusammenschrauben von Pokalen, aber seine wahre Leidenschaft galt dem Programmieren. Nahezu jede freie Minute widmete er sich seinen Computern, entwickelte seltsame Programme, die ihm und seinesgleichen angeblich das Leben erleichtern sollten und schlug so eine Minute nach der anderen tot. Es gab nichts anderes, was seine Neugier und sein Interesse derart wecken konnten wie das Programmieren - nichts, bis auf Pornofilme. Darius hatte meiner Meinung nach ein doch recht ausgeprägtes Faible für Filmmaterial dieser Art. Manchmal schloss er sich stundenlang in seinem Schlafzimmer ein um diesem Hobby zu frönen. Was und ob er dabei tat, entzog sich meiner Kenntnis und um ehrlich zu sein, bin ich darüber nicht einmal enttäuscht.
Etwa zwei Monate nach unserer Ankunft in Budapest, beschloss Pjotr irgendwelche Verwandten in Szeged zu besuchen. Natürlich habe ich ihm auch diese Geschichte nicht geglaubt, zweifelte ich doch, dass er überhaupt Verwandte dort hatte, aber ich nahm seine Entscheidung dennoch hin. Er wollte nicht lange fort bleiben, also wohnte ich bis auf weiteres bei Darius, der sich über meine Gesellschaft ausgesprochen freute. Ich weiß nicht so genau, was in den nachfolgenden Tagen passiert war. Darius schien nur darauf gewartet zu haben, mit mir alleine in der Wohnung zu sein, denn plötzlich machte er mir Avancen. Noch weniger konnte ich mir allerdings meine Reaktion auf seine Annäherungsversuche erklären. Zwar fasste ich sie mit gemischten Gefühlen auf, aber ich lehnte sie auch nicht ab. Im Gegenteil. Recht schnell entwickelte sich eine Romanze zwischen uns, deren Ausgang keiner vorhersagen konnte. War ich nach unserem Einzug in Darius' Wohnung der Meinung, den unordentlichsten und unzuverlässigsten Menschen auf Gottes Boden kennen gelernt zu haben, so bestätigte sich nun dieser Eindruck noch mehr. Aber ich erkannte auch ganz andere Seiten an ihm. Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich meinen, Darius sei sentimentaler, als es immer den Anschein hatte. Immer wieder überraschte er mich mit kleinen Aufmerksamkeiten, mit denen ich nie und nimmer gerechnet hatte. Er konnte ausgesprochen gut kochen, womit ich nun gar nicht rechnete, und hatte sogar Spaß daran. Auch wenn er selbst seit Jahren aus ethischen Gründen kein Gemüse mehr aß, bereitete er es gerne für mich zu.
Mittlerweile waren einige Wochen vergangen, seitdem Pjotr uns verlassen hatte und ich fragte mich ernsthaft ob er überhaupt zurückkehren würde. Interessanterweise hatte Darius eine ähnliche Auffassung von persönlichen Dingen wie Pjotr. Wonach ich ihn auch fragte, alles war außerordentlich persönlich und dennoch verriet er mir ein Geheimnis nach dem anderen, was mich zugegebenermaßen freute. Er schloss sich auch weiterhin oft im Schlafzimmer ein, aber ich bildete mir ein, dass das bei weitem nicht mehr so oft der Fall war, wie zu Beginn.
Knapp ein Jahr nachdem Pjotr und ich in Budapest ankamen, setzten wir unsere Reise gen Westen fort. Aus den zwei Wochen Verwandtschaftsbesuch wurden 10 Monate und ich weiß bis heute nicht, wo Pjotr wirklich war und was er dort tat. Fakt ist allerdings, dass er den klapprigen Renault gegen einen alten Opel Ascona eingetauscht hatte, seinen Kleidungsstil verändert hatte und ein völlig neuer Mensch wurde. Darius hatte nicht vor mit uns zu gehen und ich konnte mich nicht wirklich an ein Leben in Budapest gewöhnen. Der Abschied von ihm fiel mir dennoch erstaunlich schwer. Wir versprachen den Kontakt zwischen uns weiterhin aufrecht zu erhalten, doch keiner von uns hielt sich daran.
Ich habe ihn seit jenem verregneten Montagvormittag, als Pjotr und ich uns auf den Weg machten und er uns mit stummer Mine vom Wohnzimmerfenster aus verabschiedete, nie wieder gesehen, aber als wir die österreichische Grenze passierten, fand ich in meinem Reisepass einen kleinen Zettel auf dem ich Darius' krakelige Handschrift erkannte. "Ich wollte dir etwas ganz persönliches mit auf den Weg geben" stand da in blauen Lettern, "ich hoffe, es gefällt dir. Es ist wirklich sehr persönlich!" Ich faltete gespannt den Zettel auseinander und fand ein Foto darin.
Ich musste mir das Bild schon sehr genau anschauen und es dauerte eine Weile, bis ich begriff, was das Foto darstellte, denn Darius hatte es ein wenig präpariert, um mich nicht allzu sehr zu schocken. Doch dann wurde mir plötzlich klar, was Darius u. a. in all den vielen Stunden im Schlafzimmer trieb und mich übermannte solch eine Trauer, dass sie mir schier das Herz zerbrach. Ich begriff, dass ich erst jetzt, nachdem ich bereits viele viele Kilometer von ihm entfernt war, wusste, wer er wirklich war. Diese erschreckende Erkenntnis schlug auf mich zuerst wie eine Bombe ein, doch dann empfand ich nur noch eins: Unendliche Dankbarkeit.
Unweit vom Žaclér Bahnhof gab es eine kleine Absteige, in der Pjotr täglich zur Mittagszeit anzutreffen war. Mir wird heute noch ganz anders, wenn ich an diese Klitsche denke. Noch nie zuvor hatte ich solch eine lausige Kneipe gesehen, geschweige denn betreten. Aber in Anbetracht der Tatsache, dass es in Žaclér weit und breit keine öffentliche Toilette gab, war der Schuppen das Beste, was mir passieren konnte. Früher gab der Laden sicherlich einiges her, aber über die Jahre hinweg fraß ihn sichtlich der Verfall auf. Die gute Eiche, aus der die Inneneinrichtung bestand und die schon lange ihren Glanz und ihre Leuchtkraft verloren hatte, moderte vor sich hin, seitdem den damaligen Besitzer das Zeitliche gesegnet hatte und seine Witwe das Geschäft übernahm. Der Gute hatte sich eines Nachts an einem Balken über der Theke erhängt. Tragischerweise war er nie lange genug nüchtern gewesen, um ein Testament aufsetzen zu können, so dass seine Frau all seine Habseligkeiten erbte, von denen es ohnehin nicht allzu viele gab.
Zu den Stammgästen gehörte neben Pjotr auch ein armer alter Schlucker, dessen Frau in einer Nacht und Nebel-Aktion Žaclér mitsamt den beiden Kindern verließ und nie wieder zurückkehrte. Das ist mittlerweile 30 Jahre her, aber überwunden hatte er sie nie und erneut geheiratet auch nicht. Ich glaube tatsächlich, dass ihn dieses Ereignis tief geprägt hatte, denn ich habe ihn niemals lachen oder mit jemandem reden gehört. Ich zweifele sogar, dass er Verwandtschaft oder Freunde hatte und selbst wenn, so wollten diese sicherlich nichts mit ihm zu tun haben.
Was Pjotr in dieser Absteige zu suchen hatte, ist mir bis heute nicht klar. Wann immer ich ihn danach fragte, antwortete er in gebrochenem Deutsch mit russischem Akzent, dass ihm die Frage zu persönlich sei. Überhaupt war ihm alles irgendwie zu persönlich, was wohl auch erklärt, warum ich nichts über ihn weiß. Makaber, nicht wahr? Da ist man 10 Jahre lang mit jemandem befreundet, dessen richtiges Alter man nicht einmal kennt! Ich denke, er wird heute um die 35 sein, aber wer weiß das schon so genau. Diese russischen Auswanderer sehen schließlich alle gleich aus. Und selbst Sergej, ein alter Bekannter von Pjotr, hatte erstaunliche Ähnlichkeiten mit ihm. Ich fragte ihn sogar einmal, ob er nicht in Wirklichkeit Pjotrs Bruder war und erntete daraufhin lediglich ein seltsames breites Grinsen, was ein derart umfassendes Bild von Zahnverfall präsentierte, wie ich es seither nie wieder sah. Die heutigen Zahnärzte hätten sich zweifelsohne um ihn gerissen und ihm sogar kostenlose Behandlungen angeboten, wenn er nur endlich diese Ruinen aus seinem Mund entfernen und somit seine Umwelt nicht weiter schocken würde.
Ich glaube, Pjotr hatte nie eine Schulausbildung genossen, doch das ist nicht weiter verwunderlich. Kaum jemand in Žaclér hatte mehr als vier Schulklassen hinter sich, eben so viel, wie viel die Grundschulen damals hergaben. Es herrschten ähnliche Zustände wie zur Nachkriegszeit und mich würde es nicht wundern, wenn sich bis heute nichts daran geändert hat. Zigaretten wurden stückweise verkauft, eine ganze Schachtel konnte sich dort eh niemand leisten. Und wenn man Grundnahrungsmittel wie Milch und Brot kaufen wollte, musste man morgens um vier vor dem kleinen Gemischtwarenladen anstehen - dem einzigen, den es in Žaclér gab - und auf genügend Glück hoffen. Glück war überhaupt das einzige, worauf es sich zu hoffen lohnte. Die Zustände waren so miserabel, dass nicht nur die Wirtschaft darunter litt, sondern auch die Lebensfreude. Die Zahl der Selbstmordopfer stieg von Jahr zu Jahr und die Armut der Hinterbliebenen war so eklatant, dass es nicht einmal ein anständiges Begräbnis gab. Die Toten wurden in anonymen Massengräbern bestattet und erhielten nie einen Grabstein.
In all diesem Elend schaffte es Pjotr aber, sich irgendwie über Wasser zu halten, sich sogar ein halbwegs vernünftiges Mittagessen bestehend aus fettigen Bratkartoffeln und Speck leisten zu können. Ich weiß bis heute nicht, wie er das bewerkstelligen konnte. Ich weiß ja noch nicht einmal, wie er ein paar Jahre später einen alten klapprigen Renault organisieren konnte, der uns in unser Glück fahren sollte. Sprit war Mangelware, nahezu unbezahlbar und wurde auf dem Schwarzmarkt in Kanistern, verdünnt mit Wasser, verkauft. Wer das Glück hatte, ein Auto unterhalten zu können, brauchte noch mehr Glück um es mit diesem Gemisch fahrtauglich zu halten. Die Winter in Žaclér waren mehr als eisig, drastische Minusgrade waren da keine Seltenheit und gefrorener Sprit erst recht nicht.
Irgendwie schaffte es Pjotr dennoch all diese Hürden zu überwinden und so fuhren wir 1991 an einem Herbstabend voller Vorfreude und Erwartungen dem Westen entgegen. Der Westen war in diesem Fall nicht etwa ein Land wie Deutschland, nein, der Westen war schlicht und ergreifend alles, was irgendwie westlich lag. Unser Ziel war vorerst Ungarn, Budapest um genauer zu sein. Pjotr hatte dort angeblich einen alten Schulfreund, was ich ihm allerdings nie geglaubt habe. Aber wer auch immer diese Person war, die uns damals empfing, aus irgendeinem Grund kannte sie Pjotr und nahm uns bereitwillig in ihrer kleinen heruntergekommenen Wohnung auf. Wohl hatten wir es nun besser als damals in Žaclér, schließlich gab es hier fließend Wasser und eine funktionierende Toilette anstatt Plumpsklos, aber das Chaos in dem Pjotrs Bekannter wohnte war wirklich eine filmreife Leistung. Darius, der Bekannte, gehörte zu den Typen, die man nur ungern zu seinen Freunden zählen möchte. Er war ein alternativ angehauchter schräger Vogel, der grundsätzlich erstmal gegen alles war, vorzugsweise aber gegen alles, was mit der Gesellschaft und dem System in Verbindung gebracht werden konnte. Die Hackerszene in Budapest stand Anfang der 90er noch auf wackeligen Beinen, aber Darius war bereits mittendrin statt nur dabei. Seine Wohnung war vollgestopft mit irgendwelchem Computerkram, und ließ nur unschwer erkennen, dass er ein Freak war. Wohin man auch blickte, entdeckte man Computer, Fachliteratur, Scherzartikel und alles andere, was die Computerbranche so hergab. Entsprechend seinem Lebensstil und der Inneneinrichtung seiner Wohnung, fiel auch Darius' Äußeres aus.
Es muss Jahre her gewesen sein, dass er einen Frisörsalon von innen gesehen hatte, denn seine Haare hingen unordentlich und zersaust bis über die Schultern in Strähnen herab und deuteten außerdem auf einen eklatanten Mangel an Haarpflegeprodukten wie Kamm oder Bürste hin. Was einst möglicherweise einen 3-Tage-Bart darstellen sollte, war mittlerweile zu einem Gesichtsurwald mutiert, aus dessen Reihen sich lediglich der immer länger werdende Ziegenbart abhob, an dem Darius gerne spielte, wenn er sich auf etwas konzentrierte. Die Brille, die er beim Arbeiten – wie er seine dubiosen Aktivitäten nannte – trug, verstärkte das Bild eines zerstreuten Programmierers, der, um seinen Nachschub an Kaffee gewährleisten zu können, in die Küche geht und bereits auf dem Weg dorthin vergisst, was er da überhaupt wollte. Seinen Lebensunterhalt verdiente er sich mit dem Zusammenschrauben von Pokalen, aber seine wahre Leidenschaft galt dem Programmieren. Nahezu jede freie Minute widmete er sich seinen Computern, entwickelte seltsame Programme, die ihm und seinesgleichen angeblich das Leben erleichtern sollten und schlug so eine Minute nach der anderen tot. Es gab nichts anderes, was seine Neugier und sein Interesse derart wecken konnten wie das Programmieren - nichts, bis auf Pornofilme. Darius hatte meiner Meinung nach ein doch recht ausgeprägtes Faible für Filmmaterial dieser Art. Manchmal schloss er sich stundenlang in seinem Schlafzimmer ein um diesem Hobby zu frönen. Was und ob er dabei tat, entzog sich meiner Kenntnis und um ehrlich zu sein, bin ich darüber nicht einmal enttäuscht.
Etwa zwei Monate nach unserer Ankunft in Budapest, beschloss Pjotr irgendwelche Verwandten in Szeged zu besuchen. Natürlich habe ich ihm auch diese Geschichte nicht geglaubt, zweifelte ich doch, dass er überhaupt Verwandte dort hatte, aber ich nahm seine Entscheidung dennoch hin. Er wollte nicht lange fort bleiben, also wohnte ich bis auf weiteres bei Darius, der sich über meine Gesellschaft ausgesprochen freute. Ich weiß nicht so genau, was in den nachfolgenden Tagen passiert war. Darius schien nur darauf gewartet zu haben, mit mir alleine in der Wohnung zu sein, denn plötzlich machte er mir Avancen. Noch weniger konnte ich mir allerdings meine Reaktion auf seine Annäherungsversuche erklären. Zwar fasste ich sie mit gemischten Gefühlen auf, aber ich lehnte sie auch nicht ab. Im Gegenteil. Recht schnell entwickelte sich eine Romanze zwischen uns, deren Ausgang keiner vorhersagen konnte. War ich nach unserem Einzug in Darius' Wohnung der Meinung, den unordentlichsten und unzuverlässigsten Menschen auf Gottes Boden kennen gelernt zu haben, so bestätigte sich nun dieser Eindruck noch mehr. Aber ich erkannte auch ganz andere Seiten an ihm. Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich meinen, Darius sei sentimentaler, als es immer den Anschein hatte. Immer wieder überraschte er mich mit kleinen Aufmerksamkeiten, mit denen ich nie und nimmer gerechnet hatte. Er konnte ausgesprochen gut kochen, womit ich nun gar nicht rechnete, und hatte sogar Spaß daran. Auch wenn er selbst seit Jahren aus ethischen Gründen kein Gemüse mehr aß, bereitete er es gerne für mich zu.
Mittlerweile waren einige Wochen vergangen, seitdem Pjotr uns verlassen hatte und ich fragte mich ernsthaft ob er überhaupt zurückkehren würde. Interessanterweise hatte Darius eine ähnliche Auffassung von persönlichen Dingen wie Pjotr. Wonach ich ihn auch fragte, alles war außerordentlich persönlich und dennoch verriet er mir ein Geheimnis nach dem anderen, was mich zugegebenermaßen freute. Er schloss sich auch weiterhin oft im Schlafzimmer ein, aber ich bildete mir ein, dass das bei weitem nicht mehr so oft der Fall war, wie zu Beginn.
Knapp ein Jahr nachdem Pjotr und ich in Budapest ankamen, setzten wir unsere Reise gen Westen fort. Aus den zwei Wochen Verwandtschaftsbesuch wurden 10 Monate und ich weiß bis heute nicht, wo Pjotr wirklich war und was er dort tat. Fakt ist allerdings, dass er den klapprigen Renault gegen einen alten Opel Ascona eingetauscht hatte, seinen Kleidungsstil verändert hatte und ein völlig neuer Mensch wurde. Darius hatte nicht vor mit uns zu gehen und ich konnte mich nicht wirklich an ein Leben in Budapest gewöhnen. Der Abschied von ihm fiel mir dennoch erstaunlich schwer. Wir versprachen den Kontakt zwischen uns weiterhin aufrecht zu erhalten, doch keiner von uns hielt sich daran.
Ich habe ihn seit jenem verregneten Montagvormittag, als Pjotr und ich uns auf den Weg machten und er uns mit stummer Mine vom Wohnzimmerfenster aus verabschiedete, nie wieder gesehen, aber als wir die österreichische Grenze passierten, fand ich in meinem Reisepass einen kleinen Zettel auf dem ich Darius' krakelige Handschrift erkannte. "Ich wollte dir etwas ganz persönliches mit auf den Weg geben" stand da in blauen Lettern, "ich hoffe, es gefällt dir. Es ist wirklich sehr persönlich!" Ich faltete gespannt den Zettel auseinander und fand ein Foto darin.
Ich musste mir das Bild schon sehr genau anschauen und es dauerte eine Weile, bis ich begriff, was das Foto darstellte, denn Darius hatte es ein wenig präpariert, um mich nicht allzu sehr zu schocken. Doch dann wurde mir plötzlich klar, was Darius u. a. in all den vielen Stunden im Schlafzimmer trieb und mich übermannte solch eine Trauer, dass sie mir schier das Herz zerbrach. Ich begriff, dass ich erst jetzt, nachdem ich bereits viele viele Kilometer von ihm entfernt war, wusste, wer er wirklich war. Diese erschreckende Erkenntnis schlug auf mich zuerst wie eine Bombe ein, doch dann empfand ich nur noch eins: Unendliche Dankbarkeit.
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