23.06.2008

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Der zweite Frühling

Ich bin neun und höre mir stundenlange Predigten meiner Mutter an, die meine Karriere als Dieb im Keim ersticken will. Vor mir liegt der Beweis meiner Schandtat, ein rotes Doppeldecker-Mäppchen, was Monate zuvor das Objekt meiner Begierde war. Nur leider reichte mein Taschengeld nicht für alle Ausgaben von Lucky Luke und das Mäppchen, also musste ich einen Kompromiss schießen. Es war wohl nicht der beste Kompromiss, den ich hätte schließen können. Jetzt, wo ich das Gesicht meiner Mutter sehe, bin ich mir sogar ganz sicher, dass es einen anderen, besseren Kompromiss gegeben hätte. Sie kommt auf Tuchfühlung. Ich schließe meine Augen, um mir ihr wutentbranntes Gesicht nicht aus allernächster Nähe ansehen zu  müssen, doch sie lässt sich keinen Strich durch die Rechnung machen. "Schau mich an, wenn ich mit dir rede!" keift sie, also öffne ich widerwillig meine Augen und starre sie an.

Die steile Falte zwischen ihren Brauen hat exorbitante Formen angenommen. Vor mir offenbart sich ein Wunder der Natur. Ich sehe einen Menschen, der in der Lage ist, einen Krater auf der Stirn zu bilden und dabei gleichzeitig die Augen weit aufzureißen. Spontan versuche ich diese Falte auch auf meiner Stirn zu reproduzieren und ziehe ein Gesicht. Welch ein Fehler! "Nein, ich mache mich nicht über dich lustig, Mama. Ja, ich weiß, dass du die halbe Nacht auf warst und auf mich gewartet hast. Ja, ich weiß, dass ich versprochen hatte, pünktlich zu sein." Die Sorgen habe ich vergessen zu erwähnen. Die Sorgen! Wegen mir und weil sie dachte, mir sei etwas passiert. Deswegen ist sie auch die ganze Nacht aufgeblieben und hat kein Auge zugedrückt. Dabei bin ich doch gar nicht die ganze Nacht zu spät gekommen. Nur fünf Minuten. Gut, vielleicht war es auch eine halbe Stunde. Aber mehr als eine Stunde habe ich mich bestimmt nicht verspätet. Und selbst wenn: Ich bin 15 und mit 15 hat man so langsam einen Plan vom Leben und kann es selbst managen.

Wieso ist eigentlich nie jemand da, wenn man ihn braucht? Muss man denn alles selbst machen? Und warum kommt niemand vorbei und fragt, wie es einem geht oder ob man Hilfe braucht? Ich habe nie gesagt, dass ich erwachsen werden will. Ich war es plötzlich ganz einfach und es gab nichts was ich tun konnte, um diesen Prozess aufzuhalten. Woher kennen eigentlich die Anderen den Weg? Und warum kenne ich ihn nicht? Oder tun die nur so, als ob sie ihn kennen würden und haben in Wirklichkeit gar keinen Plan davon? Die Welt lügt und ich bin die Einzige, die das erkannt hat. Das Dumme ist nur, es glaubt mir niemand. Egal. Irgendwann wird es schon jemanden geben, der mir Gehör schenkt. Irgendwann kommt jemand, der mir glauben wird. Der alles glaubt, was ich sage. Und auch das was ich nicht sage.

Bis dahin werde ich einfach Predigten halten. Die tiefe Falte zwischen den Brauen habe ich mittlerweile fast bis zur Perfektion drauf. Sie ist ein Teil meines Gesichts, was ich mir ohne sie nicht mehr vorstellen kann. Ich bin mir nicht einmal mehr sicher, ob ich je ohne sie war. Sie ist immer da, morgens, mittags, abends. Sie ist die lästige Eigenschaft, die man nicht abstellen kann. Die Sorgen, die man nicht vergessen kann. Die Sorgen!

Jeder ist das Produkt seiner Eltern. Ich bin das Produkt meines selbst im Zusammenspiel mit der Umwelt. Meiner Mutter geht es gut, auch wenn die Falte nach wie vor tief ist. Gerne würde ich sie um Rat fragen, einfach so. Einfach um jemanden um Rat zu fragen, der auch antworten kann. Sie kann hellsehen. Sie konnte es schon immer und manchmal träume ich davon, wie ich sie anrufe und frage, ob sie für mich sehen kann. Ob sie mir den Weg zeigen kann. Denn sie kennt den Weg. Sie hat ihn schon immer gekannt und bis heute erfolgreich bestritten. Sie ist bereits da, wo ich erst noch ankommen muss. Falls ich ankomme. Wer wird für mich sehen, wenn sie nicht mehr ist? Kannst du es tun? Nein. Nein, du kannst es nicht und wir wissen beide, dass es so ist.

Ich bin neun und bekritzele mein Lucky Luke-Heft mit den Stiften aus meinem neuen roten Doppeldecker-Mäppchen. Ich bin 15 und die ganze Nacht auf Achse, während meine Mutter ruhig schläft. Ich bin erwachsen und studiere die Karte. Zu viele Wege führen ins Nirgendwo. Zu viele überall und nirgendwohin. Welcher ist der Richtige? Und wo ist der rote Punkt, der meinen jetzigen Standort kennzeichnet?

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