25.08.2005

0
Vom Sinn und Unsinn des Lebens

Es muss irgendwann in der 5. Klasse gewesen sein, als ich mich das erste Mal näher mit Ägypten befasst habe und beschlossen hatte, einmal dorthin zu fahren. Mich faszinierte die Geschichte Ägyptens, die Kultur, die Religion und diese ganzen sagenhaften Mythen. Ägypten war fast schon schlimmer als die Dinosaurier, welche in der 3. Klasse mein Herz erobert hatten. Doch während die Faszination für diese irgendwann auf ein Normalmaß zurückging, blieb Ägypten und festigte von Tag zu Tag seine Position in meinem Traumkatalog. Sicherlich hätte ich in all den Jahren irgendwann Zeit und Geld gehabt, um dieses traumhafte Land zu bereisen, aber irgendwie war es nie der richtige Moment. Auch wollte ich mit jemandem dorthin, der genauso wie ich ein Faible dafür hat. Leider kamen nie alle Faktoren zusammen und so blieb die Reise ein ewiger Traum.

Unzählige Träume träumte ich bisher, manche waren Schall und Rauch, andere brannten auf der Seele wie ein Brandzeichen. Meine Gedanken wandern zwei Räume weiter, wo ein fünfjähriger Drei-Käse-Hoch gerade dabei ist, in seine Traumlandschaft zu entschwinden. Der Wunsch nach einem Kind war bei weitem nicht so erdrückend wie Ägypten, aber dafür umso schmerzhafter. Entgegen unserer biologischen Bestimmung, war eine Schwangerschaft ein Thema, welches wochenlang für dicke Luft sorgte. In anderen Ländern stellte sich die Frage nach dem Nachwuchs gar nicht, ich aber erlebte wochen- und monatelang die übelsten Diskussionen und Auseinandersetzungen, welche leider nur schwer zu lösen waren. Es gibt nun mal keinen Kompromiss, wenn man ein Kind möchte. Entweder ist man einer Meinung oder eben nicht. Wir waren es Gott sei Dank Monate später doch noch und ich werde nie dieses Glücksgefühl vergessen, als ich passenderweise an Valentinstag einen positiven Schwangerschaftstest in der Hand hielt. Ich würde Mutter werden! Eine Schwangerschaft gehört mitunter zu den Dingen, die eine Frau nie vergisst. Ich habe diese Zeit sehr genossen und bin der Überzeugung, dass ich diese Zufriedenheit mit jeder Faser meines Körpers zum Ausdruck gebracht habe. Nie werde ich das Lachen meiner Mutter vergessen, als ich ihr am Telefon mitteilte, dass sie Oma werden würde. Es war ein befreiendes, glückliches aber irgendwie auch trauriges Lachen, musste ihr wohl klar gewesen sein, dass sich ihre Tochter nun endgültig von ihr gelöst hatte und auf dem Weg war, ihre eigene Familie zu gründen.

Als wir uns anschließend Wochen später sahen, saßen wir beide im Wohnzimmer und redeten. Es war eines dieser Gespräche, welches mich schlagartig wieder in das Leben einer 15jährigen versetzte und ich fragte mich, ob es je anders sein würde. Es ist doch immer wieder erstaunlich, wie man sich klein und unbeholfen fühlt, wenn man mit seinen Eltern spricht. Meine Mutter erteilte mir Ratschläge über das Leben, bereitete mich auf mein Mutterdasein vor und ich hatte keine Sekunde lang das Gefühl, dass ich Mitte Zwanzig war und wusste, was ich da tat. Wo ich vorher noch selbstsicher war und mein Leben bis in das kleinste Detail geplant hatte, saß ich nun wie damals, als ich im Tante Emma Laden um die Ecke ein Lucky Luke-Heft geklaut hatte und dabei erwischt wurde, vor ihr. Ich fühlte mich unbedeutend, unreif und seltsamerweise schuldig.

Papa gratulierte mir auf seine übliche, unbeholfene Art und Weise. Ob wir es je schaffen würden Vater und Tochter zu sein und nicht wie zwei Fremde reagieren, denen man gesagt hat, dass sie verwandt sind? Würden wir es je schaffen, ein warmes und vertrauensvolles Verhältnis aufzubauen, welches auf Liebe und Respekt basiert? Er, der von einem hochrangingen Berufssoldaten erzogen wurde, den er solange ich denken kann siezte, stand nun stocksteif vor mir, als ob er salutierte. Was war nur passiert, dass solch eine Distanz zwischen uns herrschte, welche - so schien es - nicht mehr überwindbar war? Ich erinnere mich als ob es gestern war, wie wir sonntags in den nahe gelegenen Wald fuhren und dort spazierten. Das waren die einzigen Momente, die mein Vater und ich alleine verbrachten und sie verliefen immer nach dem gleichen Schema ab, doch das war nicht wichtig. Im Gegenteil. Vielleicht gehörten diese immer wiederkehrenden Rituale einfach dazu. Er sprach über das Leben, über Sinn und Unsinn, betonte immer wieder, wie wichtig es wäre, dass ich etwas Anständiges lerne, damit ich es später einmal leichter habe als er und Mama, was zweifelsohne auch der Grund dafür war, dass er soviel arbeitete und selten zu Hause war. Meine Eltern fingen ihr Leben in recht bescheidenen Verhältnissen an. Papa musste sich alles was er je besessen hat, selbst verdienen und meine Mutter als drittjüngstes Kind von vier, bekam das, was ihre Geschwister nicht mehr brauchten, denn für einen Neukauf war nicht genug Geld da. Beide waren bestrebt, meinen Bruder und mich vor dieser Pein zu bewahren. Im Nachhinein glaube ich, dass mein Vater an solchen Sonntagen all seine erzieherischen Defizite, die er im Alltag an den Tag legte, kompensieren wollte und mir soviel wie möglich über das Leben erzählte, in der Hoffnung, dass ich dies eines Tages beherzigen würde. Ich verstand vieles von dem was er sagte nicht wirklich, schließlich war ich damals 4 oder 5 Jahre alt und er schien das während seiner langen Monologe förmlich zu vergessen. Heute kommt es mir so vor, als ob seine Worte nicht mal mir galten, sondern sich selbst und er sich auf diese Weise gut zuredete, dass das, was er tat und wie er es tat, richtig war.

Unsere ausgiebigen Spaziergänge endeten immer mit einer anständigen Schaukelpartie auf dem Waldspielplatz. Papa stand hinter mir und schaukelte mich unermüdlich an, selbst dann, als ich es bereits selbst konnte. Es wurde ihm nie zuviel. Wir schaukelten solange, wie ich Lust hatte oder bis die Dämmerung einbrach und es Zeit wurde nach Hause zu fahren.

Ein Schmunzeln huscht über mein Gesicht, wenn ich daran zurück denke. Wie befreiend und glücklich doch diese Momente für mich waren. Zweifelsohne schaukele ich auch heute noch sehr gerne und habe überhaupt keine Probleme mit meinem Sohn um die Wette zu schaukeln. Heute bin ich diejenige, die mit ihm in den Wald spazieren geht, ihn über das Leben aufklärt, von Dingen spricht, die er noch nicht versteht und dabei seine unzähligen Fragen beantwortet, deren Antworten mir jetzt schon Kopfschmerzen bereiten.

Mich beschleicht das Gefühl, dass nicht arg viel von dem, was mein Vater mir damals erzählt hat, übrig geblieben ist. Zigaretten sind Gift, sagte er immer, der seit 20 Jahren keine mehr angezündet hat. Ich bin Raucher wie aus dem Bilderbuch. Lern was Anständiges, hat er gesagt - ein Germanistikstudium war zwar sinnvoll, aber in seinen Augen nicht anständig genug. Ich hätte doch auch Architektur studieren können. Mit Bereichen, die nichts Handfestes erschaffen, konnte er noch nie etwas anfangen. Er hat zweifelsohne das Gefühl, bei meiner Erziehung auf ganzer Ebene versagt zu haben, auch wenn ich nicht kriminell, drogenabhängig oder sonst irgendwie auf den falschen Weg gekommen bin.

Wie gerne würde ich die Zeit zurückdrehen, den ein oder anderen wertvollen Moment länger auskosten und einige Dinge anders machen. Ich würde diesen einen verregneten und verhängnisvollen Donnerstag nicht in die Schule fahren und somit mein Erwachsenwerden verlangsamen. Ich würde die besagte Nacht lieber nicht schlafend verbringen, um nicht den Jahre alten, aber immer wiederkehrenden Traum zu träumen, den ich damals das erste Mal hatte und der mir auch heute noch die Luft zum Atmen raubt, weil mein Bruder darin sein Leben lässt. Ich würde fünf Minuten früher das Wohnzimmer meiner Großeltern verlassen und die Unbeschwertheit meiner Kindheit beschützen. Ich würde einmal weniger an das Telefon gehen und nicht diejenige sein, die meiner Mutter den Tod ihres Vaters mitteilt und ihren Schmerz in all seiner erschreckenden Größe ertragen muss.

Im Gegensatz dazu, würde ich vielleicht doch das eine oder andere Mal mehr auf meine Eltern hören, die natürlich immer Recht hatten und deswegen von mir gehasst wurden. Ich würde noch öfters auf meinen Lieblingsbaum klettern, dem sie inzwischen die alten, mit Erinnerungen behafteten Äste, abgesägt haben. Ich würde mich mehr um meinen Bruder kümmern, den ich als Kind so oft vernachlässigt habe. Ich würde besser in Geschichte aufpassen und mich nicht von meinem unsympathischen Geschichtslehrer zur Schnecke machen lassen.

Diese Erinnerungen liegen so weit zurück, dass sie mir manchmal unwahr erscheinen. Sie sind nicht nur zeitlich von mir entfernt, sondern auch räumlich, fanden doch viele davon in einem ganz anderen Land statt. Einem Land, wo ich zwar ein paar wenige, aber dennoch entscheidende Jahre meines Lebens verbrachte. Es ist, als ob ich meine Wurzeln dort gelassen hätte und diese nie nachgewachsen wären. Es entstand eine klaffende Lücke, die nie geschlossen werden konnte, auch wenn sie ab und an förmlich von Erinnerungen überflutet wird. Kann ein Mensch zwei Heimaten haben? Eine, die der Existenzgründung, dem Überleben und letzten Endes auch dem Verstand dient und die andere, die der Lebensfreude, der Wärme und dem Herzen gehört? Zwei Länder, die nicht unterschiedlicher sein könnten, vom wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und menschlichen Aspekt. Eins, in dem mein Leben statt findet und eins, wo viele Menschen wohnen, die mir etwas bedeuteten und mein Leben, wenn auch nur für einige Jahre, geprägt haben? Sind diese Gefühle, die ich bei dem Gedanken daran hege, das, was mein Vater als Heimatliebe bezeichnete? Jahrelang prangerte er verbittert das Fehlen derselbigen bei mir an, mit dem Hinweis, dass ich eine Schande für das Land wäre, da ich es nicht genug schätzen würde. Im Gegenteil, seiner Meinung nach schämte ich mich sogar dafür und leugnete meine Wurzeln, was ihm jedes Mal aufs Neue das Herz brach. Wie wenig ich für mein Land und meine Vorfahren empfand, kam seiner Meinung nach sehr deutlich zum Ausdruck, als sein Vater starb und ich mich mit meinen 13 Jahren nicht in der Lage sah, an den offenen Sarg heranzutreten und meinem Opa die letzte Ehre zu erweisen. Und auch als später, die am Grab stehende, riesige Menschentraube in eine Totenstille verfiel, um kurze Zeit darauf selbige von uniformierten Männern brechen zu lassen, die auf Kommando ihre Gewehre anlegten und unzählige Schüsse abfeuerten, wollte ich lieber woanders sein, als auf dem Begräbnis eines Mannes, der mir bis zu seinem Tod fremd blieb und dessen strenger Blick mich immer verängstigt hatte.

Ist Heimatliebe dieses unbeschreibliche Glücksgefühl, wenn man bekannte aber doch fremde Töne hört? Ist Heimatliebe dieses Herzklopfen, wenn man alle paar Jahre die Grenze passiert und sich jeden Stock und jeden Stein anguckt, als ob er nicht von dieser Welt wäre? Ist Heimatliebe der Wunsch nach einem einfachen Leben, wo Menschen auch dann noch lachen, wenn sie eigentlich nichts mehr zu Lachen haben? Ist Heimatliebe die Freude, wenn man sich in das fremde Kulturleben eingliedert und feiert, als ob es das letzte Mal wäre? Ist es Heimatliebe, wenn man lauthals mitgröhlt, wenn es heißt "Steh auf und sing, mein Land - denn wer deinen Gesang nicht hören will, wird dein Donnergrollen hören", während das Herz wächst und wächst und am liebsten der Brust entspringen möchte?

Oder ist Heimatliebe einfach nur dieses atemberaubende Gefühl von Wärme, ob der vielen kleinen Erinnerungen, welche sich krampfartig um das Herz legen und die Luft zum Atmen rauben? Diese vielen farbenfrohen Bilder, die vor dem inneren Auge vorbei ziehen und ein dumpfes Gefühl in der Magengegend hinterlassen, welches den Eindruck erweckt, dass man irgendwann, an einer wichtigen Kreuzung des Lebens, den falschen Weg ging und nun zwischen zwei absolut inkompatiblen Welten hin- und hergerissen ist. Und doch, wäre ich nicht diesen Weg gegangen, hätte ich eines der besten Konzerte meines Lebens verpasst. Ich hätte damals, im Sommer '93 nie meine große Liebe kennen gelernt, bei der ich herausfand, wie schmerzhaft Liebe sein kann, wie viel Leid ein Mensch ertragen kann und wie sehr man für jemanden bluten kann. Ich hätte mir die schönsten grünen Augen entgehen lassen, die ich je gesehen habe. Ich hätte nie erfahren, was es wirklich bedeutet glücklich zu sein und ich hätte genauso wenig erfahren, was echtes Leid und Not sind.

Meine Gedanken und Gefühle verwirren mich und lasten auf mir, wie ein zentnerschwerer Sack. Ich kann das Empfundene nicht anders als mit Heimatliebe erklären - wenn vermutlich auf meine Art und Weise. Es wäre viel zu leicht, es mit Fernweh oder Nostalgie zu rechtfertigen, auch wenn meine Erinnerungen sicherlich das Ihre dabei taten, als sie dieses Gefühlschaos in mir zum Leben erweckt haben. Im Laufe der Zeit verblassen so viele, vor allem schlechte Erinnerungen und werden zu Schatten. Übrig bleiben die Schönen, welche oftmals idealisiert werden und wesentlich schöner und farbenfroher in Erinnerung behalten werden, als sie es eigentlich sind.

Manchmal macht sie ja Sinn, so eine Reise in die Vergangenheit, vor allem dann, wenn sich nebst der vielen schmerzhaften, aber schönen Erinnerungen ein positives Fazit aufdrängt:

Du hast nicht versagt, Papa, auch wenn vieles anders kam, als du es dir für mich gewünscht hast. Aber wenn du eins erreicht hast, dann, dass ich endlich Heimatliebe empfinde.

0 Kommentare:

Kommentar veröffentlichen

Du hast was zu sagen? Her damit! :)