05.05.2006

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Stell dir vor, es ist Frieden und du kämpfst noch immer auf verlorenem Posten.

Ich könnte dir sagen, was sich hinter dem Horizont befindet, weil ich schon einmal dort war. Dort, an jener Stelle, wo alles anfängt und gleichzeitig aufhört, wo Zeit keine Macht hat und perfekte Momente eine Ewigkeit dauern. Es ist der schönste Ort, den man je zu Gesicht bekommen kann und gleichzeitig ist es ein Ort, den nur wenige zu sehen bekommen. Nicht, weil sie es nicht verdient hätten, sondern weil sie nicht die Tür benutzen. Der Weg führt aber durch die Tür. Warum nimmt niemand diesen Weg?

1996 bekam ich zum Geburtstag von einer guten Freundin ein Buch geschenkt. Es handelt von einem Menschen, der auf dem Höhepunkt seines Daseins, seiner Karriere und all dem, was er schon immer erreichen wollte, aussteigt. Im Laufe der Jahre habe ich dieses Buch viele Male gelesen und jedes Mal stockt mein Atem an ein, zwei bestimmten Stellen. Eine davon ist eine sehr seltsame Stelle, weil sie auf den ersten Blick nichts mit der Handlung im Allgemeinen zu tun hat. Und doch tut sie das.

Hast du einmal versucht zu gehen? Einfach nur zu gehen? Hast du je 10,20 oder 30 Minuten deiner Zeit geopfert und dabei nichts anderes getan als zu gehen? Wenn du das mal tun solltest, wird dir nach einigen Minuten auffallen, dass du dich auf das Gehen konzentrierst. Und je mehr du dich darauf konzentrierst, desto verunsicherter wirst du. Nach einer Weile wirst du dich fragen, ob du richtig gehst. Und nach einer weiteren Weile wird dir klar sein, dass so kein Mensch geht. Wenn du an diesen Punkt gelangst, wäre es gut möglich, dass du dich fragst, was du eigentlich erreicht hast, wenn du nicht einmal das Grundlegendste erreicht hast. Du ertappst dich dabei, wie du das, was du eigentlich seit deinem ersten Lebensjahr kannst, in Wirklichkeit erst jetzt erlernst.

Letztens hat Sohn einen Regebogen gemalt. Voller Stolz präsentierte er mir sein Bild und zeigte mir diesen Regenbogen, der nur aus 2 oder 3 farbigen Kurven bestand. Ich wollte ihm erklären, dass so kein Regenbogen aussieht, bis mir auffiel, dass ich selbst nicht mal mehr weiß, wie ein Regenbogen aussieht. Warum? Weil ich seit Ewigkeiten keinen mehr gesehen habe oder weil ich in Wirklichkeit noch nie einen sah?

Was würde ein Blinder sehen, wenn er zum ersten Mal sehen könnte? Und was entgeht uns, obwohl wir mit zwei funktionierenden Augen durchs Leben laufen? Könnte es sein, dass die Gebrauchsanweisung fürs Leben vor uns liegt und wir einfach nicht im Stande sind sie zu lesen? Wie viele von uns schlagen wild um sich herum, in der Hoffnungen sie könnten sich so über Wasser halten. Warum lernen wir stattdessen nicht einfach zu schwimmen?

Hast du je Augen gesehen, die ihren magischen Glanz verloren haben? Hast du jemals in Augen geschaut, bei denen dich direkt nach der Iris eine Wand erwartet hat? Und hast du jemals jemandem in die Augen geschaut und dich darin verloren? Weißt du, wie sich das anfühlt? Hast du je diesen Sog gespürt, die Gewissheit dass du jetzt, genau in diesem Augenblick, verloren bist und nie wieder so sein wirst, wie du es vorher warst?

Stell dir vor, alles wäre so einfach wie ein unbeschwerliches Lachen an einem warmen Sommertag.

Ich kann an den Fingern einer Hand die Momente abzählen, bei denen ich das Gefühl hatte, dass ich – wenn ich an Ort und Stelle sterben würde – nichts verpassen würde. Die meisten dieser Momente sind schon Jahre alt. Unglaublich, wie lange man sich von Erinnerung ernähren kann. Was wären wir nur ohne sie? Dabei sind es nur Fragmente, die mir besonders in Erinnerung geblieben sind. Ein paar Augen, ein Lachen, ein Geruch, glatte warme Haut unter meinen Fingern … es ist so, wie du es einmal sagtest. Damals, als du mich gefragt hast, was Glück ist. Und doch ist es nicht so. Und zwar aus dem Grund, weil mir in diesen Momenten bewusst war, dass ich glücklich bin, und nicht erst im Nachhinein.

Wenn alles anders wäre, würde ich sagen: "Komm, lass uns zusammen gehen. Ich werde deine Hand halten, damit du nicht fällst." Aber es ist nicht anders und weil es nicht anders ist, werde ich das nie sagen. Und ich werde auch nie da sein um tröstend meine Hand auf deine Stirn zu legen oder deine vergossenen Tränen aufzufangen.

Ich weiß, was du jetzt denkst und ich habe keine Antworten auf deine Fragen. Ich habe auf viele Fragen keine Antworten. Ich tue gerne so, als ob ich alles wissen würde, aber im Grunde genommen weiß ich noch weniger als du. Aber eins weiß ich immerhin mit Sicherheit. Ich weiß wie Wolken schmecken.

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