27.07.2010
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Generation der Verdammten
Ich war etwa 17, als ich Janek in einem dieser Modeschuppen kennenlernte, in welche man geht um sehen und selbst gesehen zu werden. Meine Freundin und ich waren weder auf das Eine noch auf das Andere aus. Doch wir waren viel zu jung um zu wissen, worauf wir uns an jenem Nachmittag einließen, als wir seine Einladung auf einen Kaffee annahmen und uns an seinen Tisch setzten.
Janek war gute 16 Jahre älter als wir und obwohl uns damals sein Alter nahezu biblisch vor kam, waren wir nicht mutig genug seine Einladung auszuschlagen. Wir hatten es mit einem erwachsenen Menschen zu tun, dessen Alltag aus Arbeit und Verpflichtungen bestand, während sich unser Lebensmittelpunkt hauptsächlich um die große Liebe und den dazugehörigen Liebeskummer drehte. Zeitweise rückte auch das bevorstehende Abitur in den Vordergrund, insbesondere vor den Klassenarbeiten im letzten Halbjahr, so dass wir uns wieder auf das besannen, was vermeintlich wichtig war. Wie unwichtig vieles davon tatsächlich war, sollten wir erst Monate später erfahren, als der Krieg ausbrach.
Sie zogen erst die Berufssoldaten ein sowie jene, die sich freiwillig zur Verfügung stellten.Die Hälfte von ihnen kam Jahre später, als der Krieg zu Ende, war nicht mehr zurück. Und auch jene, die das Pech hatten, den Anfang des Krieges beim Bund zu erleben, mussten schließlich irgendwann daran glauben und zogen an die Front. Andere hofften, die 12 Monate Wehrpflicht durchstehen zu können, ohne von ihrer Waffe je Gebrauch machen zu müssen.
Dass Menschen tagtäglich starben war uns bewusst. Die Medien waren voll davon. Schon längst war das herkömmliche Fernsehprogramm eingestellt worden und bestand mehr oder weniger nur noch aus Nachrichten und Berichterstattungen diverser Korrespondenten an der Front. Wie bitter die Lage jedoch tatsächlich war, erfuhren wir erst als das große Verschwinden begann. Menschen, die Jahrzehnte nebenan wohnten, waren eines Tages einfach nicht mehr da. Sie wurden deportiert oder flohen freiwillig. Andere, die sich weigerten ihre Häuser zu verlassen, wurden ermordet. In die verlassen Häuser zogen jene ein, die sich auf Grund ihrer Nationalität selbst als rechtmäßige Eigentümer einschätzten. Die Mieter fluktuierten. Je nach aktueller Kriegslage konnte es durchaus vorkommen, dass schon nach wenigen Monaten die vermeintlichen Eigentümer selbst fliehen und Anderen Platz machen mussten.
Wir fühlten uns trotz der Umstände sicher. Wenngleich vorerst nur strategisch wichtige, als auch militärische Ziele beschossen wurden und wir selbst davon eines in Form einer Kaserne in unserer Stadt hatten, hatten wir keine Angst. Die Kaserne kannte jeder von uns, viele waren sogar im Rahmen des Unterrichts dort zu Besuch und durften Schießübungen beiwohnen oder gar daran teilnehmen. Ich selbst hatte dort das erste Mal ein Gewehr in der Hand, welches ich zuvor nach Anleitung zusammen gebaut hatte. In allen höheren Schulen wurde damals noch Verteidigung und Schutz unterrichtet, so dass der Kasernenbesuch zum Schulalltag gehörte. Die Jungs in diesem grauen, hässlichen Bunker hatten in unseren Augen ohnehin den ganzen Tag nichts zu tun. Und warum wir uns mit einem Fach wie Verteidigung und Schutz herumschlagen mussten, konnten wir uns bis Kriegsbeginn nie so richtig erklären. Wir waren jung und voller Träume. Wir wollten Abitur machen, studieren und in die große weite Welt ziehen um Karriere zu machen. Dass es kaum einer von uns weiter als bis zur nächsten Ortschaft schaffen sollte, konnten wir damals noch nicht ahnen. Erst als einige Monate später die Sperrstunden jeden Abend um 20:00 Uhr einsetzten und Panzer durch unsere Straßen rollten, brach die bittere Realität über uns ein. Wir waren die Generation der Verdammten, diejenigen, die einfach das Pech hatten, zur falschen Zeit am falschen Ort zu sein, deren Zukunft mit Waffen und Schüssen besiegelt wurde, noch bevor sie begonnen hatte. Und einige von uns, sollten nie die Gelegenheit haben herauszufinden, was ihnen ihre Zukunft gebracht hätte.
Wer Kontakte im Ausland hatte, zog sämtliche Register um Möglichkeiten zu finden das Land zu verlassen, was auf Grund der Sanktionen allerdings nicht einfach war. Sämtliche Botschaften waren mit Ausbruch des Krieges überfüllt und je länger der Krieg anhielt, umso mehr Menschen standen vor den Botschaften an. Sie wurden wie Tiere zusammengepfercht und genauso behandelt. Wer das Glück hatte noch am selben Tag die Botschaft zumindest betreten zu können, konnte nicht auch noch darauf hoffen, verrichteter Dinge wieder gehen zu können. Die Anforderungen für ein Touristenvisum waren exorbitant. Junge Leute wie wir, ohne feste Arbeitsstelle und ohne Perspektive waren dabei die schlechtesten Kandidaten überhaupt. Diejenigen, die Familie oder Arbeit hatten bzw. in irgendeiner Form gebunden waren, hatten da schon bessere Chancen. Von denen konnten sich die Behörden zumindest eine Rückkehr in ihr Heimatland erhoffen.
Wer das nötige Kleingeld hatte, konnte sich sein Visum auch einfach erkaufen. Natürlich nur unter der Hand. Korruption war ein Wort, was man sich nur denken, aber nie laut aussprechen konnte. Jene, die vom Krieg profitierten waren namentlich in der Stadt bekannt und hatten über Nacht wichtige Positionen eingenommen. Den Vorgängern wurde Hab und Gut genommen. Sie konnten sich glücklich schätzen, wenn sie im Anschluss noch ein Dach über dem Kopf hatten und am Leben waren. Das Gleiche passierte mit allen anderen wichtigen gesellschaftlichen, politischen und staatlichen Positionen bzw. Funktionen. Wer in der falschen Partei war, hatte darüber hinaus besonders schlechte Karten und konnte nur darauf hoffen, nicht in die Schusslinie zu geraten und mit dem Leben davon zu kommen.
Als der Strom abgestellt wurde und wir nur noch stundenweise Wasser hatten, stieg auch unsere Frustration eklatant an. Mit jedem Tag wurde uns bewusster, dass wir nichts hatten, worauf wir hoffen konnten. Statt abends auszugehen, saßen wir mit unseren Familien bei Kerzenlicht im Dunklen und konnten froh sein, wenn ein Transistorradio mit den neuesten Nachrichten wenigstens halbwegs die tödliche Stille überbrücken konnte. Vor allem die langen Nächte im Winter waren ohne Strom nahezu unerträglich. Wir organisierten uns soweit wie wir es konnten. Die Stadt war in unterschiedliche Sektoren, die für jeweils 6-8 Stunden täglich ohne Strom waren, aufteilt. Wer das Glück hatte, jemanden in einem anderen Sektor zu kennen, konnte zumindest dorthin fahren, um so wenigstens ab und an der Dunkelheit, Stille und Kälte zu entkommen. Über Monate hinweg wuschen und kochten wir mit Wasser aus Kanistern, Flaschen, Töpfen und anderen Gegenständen, die wir in weiser Voraussicht dann mit Wasser auffüllten, wenn die Leitungen wieder welches hergaben.
Auf Grund des Embargos brach die Wirtschaft nahezu vollständig ein. Grundnahrungsmittel wurden nur noch gegen Bons verteilt, wobei jede Familie auf eine beschränkte Menge Anspruch hatte. Milch bekamen nur diejenigen, die kleine Kinder hatten. Pro Haushalt standen außerdem 20 Liter Sprit zur Verfügung, welchen man jedoch nie zu Gesicht bekam, weil die Tankstellen über Monate hinweg keinen Sprit hatten. Der Schwarzmarkt und der damit verbundene Devisenmarkt boomten. Nahezu alles konnte man unter der Hand erwerben – wenn man denn das nötige Kleingeld dafür hatte. Die Inflation fraß nicht selten ein Monatsgehalt binnen Stunden auf und manchmal konnte man sich davon am Ende des Tages gerade noch eine Schachtel Zigaretten kaufen. Um sich halbwegs abzusichern, hoben die Menschen noch am Zahltag ihr Geld ab und liefen damit zum nächsten Devisendealer, um es in eine stabile Währung umzutauschen. Geld war nichts mehr wert. Binnen Monaten wurde es mehrfach neu gedruckt, zeitweise gab es sogar einen 2-Millionen-Schein, von dem man nicht einmal ein Kilo Brot kaufen konnte. Die Regale in den Supermärkten waren leer oder reihenweise mit ein- und demselben Produkt aufgefüllt. Sie hatten schlichtweg nichts zu verkaufen.
Wie Janek sich in diesen miserablen Kriegszuständen eine halbwegs vernünftige Wohnung und ein Auto leisten konnte, weiß ich bis heute nicht. Nicht selten lebten Erwachsene mit Ihren Eltern bis zu deren Tod unter dem gleichen Dach. Janek lebte alleine und das nicht einmal so schlecht. Und auch über ausbleibendes Geschäft konnte er sich nicht beklagen. Die kleine Boutique, die er nahe dem Zentrum führte und die vor allem für italienische Mode und Angora-Pullover bekannt war, lief recht gut.
Während anderswo Menschen starben, fuhr er mich in seinem Audi nach der Schule nach Hause. Nicht selten versteckte ich mich dabei, indem ich die Lehne vollständig runterließ. Die Stadt hatte überall Augen und Ohren. Ich konnte es mir nicht leisten, dass andere Mensch oder gar meine Eltern Wind von der Sache bekamen. Sie hätten es ohnehin nicht verstanden.
Janek hatte, vielleicht aus einer Vorahnung heraus, schon früh dafür gesorgt, dass ihm auch außerhalb des Landes Möglichkeiten offen stehen. Für gut 15.000 DM hatte er eine Freundin mit einem Schweizer verheiratet und wartete nun geduldig auf den Moment, da sie sich scheiden lassen und er sie heiraten konnte. Auf diese Weise wollte er seinen Weg außer Landes finden. In regelmäßigen Abständen fuhr er, soweit es die Sanktionen erlaubten, nach Ungarn, Italien und manchmal auch in die Schweiz und beschaffte dort die Ware für seine Boutique. Auch wenn er mich irgendwann als seine Freundin betrachtete, konnte ich nie mit ihm auf Reisen gehen. Wir machten nur ein einziges Mal sogenannten Urlaub, als er mich für ein verlängertes Wochenende mit nach Ungarn nahm. Mehr war ohne Visum ohnehin nicht möglich. Für mich war dieser Ausflug, als käme ich vom Regen in die Traufe. Ungarn war damals bei Weitem kein wirtschaftlich starkes Land, aber für mich war es das Land der unbegrenzten Möglichkeiten. Da ihn seine Reise weiter führte und ich nicht mitkommen konnte, blieb ich den Tag über in einem kleinen Hotel und vertrieb mir die Zeit mit Shoppen. Er hatte mir ein kleines Taschengeld überlassen, was umgerechnet zweifelsohne mehr war, als so manch ein Monatsgehalt zu Hause. Ich hatte es binnen weniger Stunden ausgegeben. In erster Linie für süße Stückchen, aber auch für Kosmetika und Unterwäsche. Die Diskussionen, die ich anschließend mit ihm hatte, habe ich bis heute nicht vergessen, trugen sie sich doch zum Teil auf der leergefegten Autobahn auf dem Weg nach Hause zu. Er war so wütend über meine Maßlosigkeit, dass er mich kurzerhand auf der Autobahn aussetzte, nur um mich wenige Minuten später wieder einzusammeln. Ich habe Jahre lang nicht verstanden, warum ausgerechnet er sich über das Geld aufgeregt hatte. Ihm ging es schließlich besser als den meisten von uns.
Monate nach unserem Kennerlernen gaben wir das Versteckspiel auf. Ich zeigte mich von da ab offen in seiner Gesellschaft. Mir war nie bewusst, wie viel das zu meinem Schutz beigetragen hatte. Denn auch er war in der Stadt bekannt wie ein bunter Hund und jeder wusste, dass ich mit ihm zusammen war. Was die Menschen in meinem Umfeld darüber dachten, habe ich nie erfahren. Aber es war sicherlich nichts Gutes, schon auf Grund des hohen Altersunterschiedes. Wahrscheinlich dachten sie, ich wäre mit ihm nur wegen des Geldes zusammen, doch Geld hat für mich nie eine Rolle gespielt. Er symbolisierte Normalität in all diesem Wahnsinn. Er stand für ein Leben, welches meine Generation und ich nicht führen konnten und auch nicht führen sollten. Er hellte die tristesten und düstersten Momente meines Lebens auf und bot Hoffnung, wenn meine Familie und ich im dunklen, kalten Keller saßen, während draußen der Luftalarm tobte.
Als ich mein Studium begann, keimte erneut die Hoffnung in mir auf. Viele meiner Klassenkameraden zogen gemeinsam mit mir von zu Hause aus. Wir fühlten uns nicht nur erwachsen, wir waren es auch, schließlich waren wir auf uns selbst gestellt. Wir konnten nicht jedes Wochenende nach Hause fahren, da die Fahrkarten viel zu teuer waren. Wie unsere Eltern unser Studium finanzierten, wussten wir nicht. Und wie sie die Miete für unsere Unterkunft – welche umgerechnet 100 – 150 DM betrug, bezahlten, auch nicht. Statt uns gesund und ausgewogen zu ernähren oder das eine oder andere Unimaterial zu besorgen, gingen wir lieber bis morgens um 5 aus. Wir holten alles nach, was uns vorher verwehrt blieb.
Aus dem anfänglichen Traum, mit Janek zusammen zu ziehen, wurde nichts. Er konnte die Stadt nicht verlassen, also sahen wir uns an den Wochenenden, manchmal auch unter der Woche, wenn ich an der Uni blau machte. Als wir etwa 2 Jahre zusammen waren, heiratete er die Freundin, die er damals gegen Geld mit einem Schweizer verkuppelt hatte. Wann immer sie zu Besuch war, war ich Tabu. Wenn sie weg war, führten wir unsere Beziehung ganz normal fort. Die Phasen ihres Besuches waren die schlimmsten Momente unserer Beziehung. Ich fühlte mich hintergangen und betrogen, obwohl er mich nie in dieser Hinsicht belogen hat. In den Ferien oder wenn er auf Reisen war, kümmerte ich mich ein wenig um seinen Laden, was makaber war, da unter seinen Angestellten auch die Schwester der Frau war, die er geheiratet hatte.
Als ich mich in das vierte Semester einschrieb, war der Krieg zu Ende und das Land schöpfte neue Hoffnung. Es war klar, dass wir noch Jahrzehnte mit den Nachwirkungen des Krieges zu kämpfen haben sollten, doch darüber wollte niemand so wirklich sprechen. Jeder wollte, dass es einfach mal voran geht – egal in welcher Hinsicht und wie sehr.
Janek war mit Ende des Krieges nicht mehr so häufig auf Reisen, vieles konnte abgewickelt werden, ohne dass er persönlich vor Ort sein musste. Auch wenn der Krieg zu Ende war, bot er mir weiterhin einen Zufluchtsort, wo ich Ruhe und Geborgenheit finden konnte. Ich hatte nie die Hoffnung aufgegeben, dass wir vielleicht doch eines Tages ein ganz normales Paar sein würden, doch im Nachhinein denke ich, dass das schlichtweg nicht unser Schicksal war. Ich hatte den Krieg überlebt, während andere ihr Leben dafür lassen musste und ich hatte meine große Liebe gefunden. Das war mehr als ich mir damals erträumt hatte, mehr als viele andere hatten.
Da sich die wirtschaftliche als auch politische Lage ein wenig gebessert hatte, wollte auch ich frühzeitig mein Glück in Sachen Ausland versuchen und vielleicht sogar nach meinem Studium auswandern. Also stand ich für ein Visum an und hoffte aufs Beste. Die Menschenschlangen hatten zwar etwas nachgelassen, aber man musste nach wie vor morgens um vier oder fünf vor der Botschaft sein, wenn man darauf spekulierte, noch am gleichen Tag seine Unterlagen abgeben zu können. Wochen später kam das Einladungsschreiben der Botschaft, in welchem man mir mitteilte, welche Dokumente ich für ein Visum vorzulegen hatte und wann ich erscheinen sollte.
An einem kalten, verschneiten Dezemberabend verließ ich in Lederjacke und Jeans und mit meinem Rucksack als Gepäck Janek und meine Heimat und kehrte erst viele, viele Jahre später das erste Mal zurück. Bis heute war ich noch einige weitere Male zu Hause, allerdings immer nur zu Besuch. Während dieser Zeit traf ich Janek genau ein einziges Mal. Wir taten beide so, als ob wir uns nicht kennen und starrten uns lediglich mit stummer Mine an. Die weit aufgerissenen Augen und der entsetzte, schmerzerfüllte Blick ließen vielleicht erahnen, dass uns einst etwas Wunderbares und Außergewöhnliches verbunden hatte.
Janek war gute 16 Jahre älter als wir und obwohl uns damals sein Alter nahezu biblisch vor kam, waren wir nicht mutig genug seine Einladung auszuschlagen. Wir hatten es mit einem erwachsenen Menschen zu tun, dessen Alltag aus Arbeit und Verpflichtungen bestand, während sich unser Lebensmittelpunkt hauptsächlich um die große Liebe und den dazugehörigen Liebeskummer drehte. Zeitweise rückte auch das bevorstehende Abitur in den Vordergrund, insbesondere vor den Klassenarbeiten im letzten Halbjahr, so dass wir uns wieder auf das besannen, was vermeintlich wichtig war. Wie unwichtig vieles davon tatsächlich war, sollten wir erst Monate später erfahren, als der Krieg ausbrach.
Sie zogen erst die Berufssoldaten ein sowie jene, die sich freiwillig zur Verfügung stellten.Die Hälfte von ihnen kam Jahre später, als der Krieg zu Ende, war nicht mehr zurück. Und auch jene, die das Pech hatten, den Anfang des Krieges beim Bund zu erleben, mussten schließlich irgendwann daran glauben und zogen an die Front. Andere hofften, die 12 Monate Wehrpflicht durchstehen zu können, ohne von ihrer Waffe je Gebrauch machen zu müssen.
Dass Menschen tagtäglich starben war uns bewusst. Die Medien waren voll davon. Schon längst war das herkömmliche Fernsehprogramm eingestellt worden und bestand mehr oder weniger nur noch aus Nachrichten und Berichterstattungen diverser Korrespondenten an der Front. Wie bitter die Lage jedoch tatsächlich war, erfuhren wir erst als das große Verschwinden begann. Menschen, die Jahrzehnte nebenan wohnten, waren eines Tages einfach nicht mehr da. Sie wurden deportiert oder flohen freiwillig. Andere, die sich weigerten ihre Häuser zu verlassen, wurden ermordet. In die verlassen Häuser zogen jene ein, die sich auf Grund ihrer Nationalität selbst als rechtmäßige Eigentümer einschätzten. Die Mieter fluktuierten. Je nach aktueller Kriegslage konnte es durchaus vorkommen, dass schon nach wenigen Monaten die vermeintlichen Eigentümer selbst fliehen und Anderen Platz machen mussten.
Wir fühlten uns trotz der Umstände sicher. Wenngleich vorerst nur strategisch wichtige, als auch militärische Ziele beschossen wurden und wir selbst davon eines in Form einer Kaserne in unserer Stadt hatten, hatten wir keine Angst. Die Kaserne kannte jeder von uns, viele waren sogar im Rahmen des Unterrichts dort zu Besuch und durften Schießübungen beiwohnen oder gar daran teilnehmen. Ich selbst hatte dort das erste Mal ein Gewehr in der Hand, welches ich zuvor nach Anleitung zusammen gebaut hatte. In allen höheren Schulen wurde damals noch Verteidigung und Schutz unterrichtet, so dass der Kasernenbesuch zum Schulalltag gehörte. Die Jungs in diesem grauen, hässlichen Bunker hatten in unseren Augen ohnehin den ganzen Tag nichts zu tun. Und warum wir uns mit einem Fach wie Verteidigung und Schutz herumschlagen mussten, konnten wir uns bis Kriegsbeginn nie so richtig erklären. Wir waren jung und voller Träume. Wir wollten Abitur machen, studieren und in die große weite Welt ziehen um Karriere zu machen. Dass es kaum einer von uns weiter als bis zur nächsten Ortschaft schaffen sollte, konnten wir damals noch nicht ahnen. Erst als einige Monate später die Sperrstunden jeden Abend um 20:00 Uhr einsetzten und Panzer durch unsere Straßen rollten, brach die bittere Realität über uns ein. Wir waren die Generation der Verdammten, diejenigen, die einfach das Pech hatten, zur falschen Zeit am falschen Ort zu sein, deren Zukunft mit Waffen und Schüssen besiegelt wurde, noch bevor sie begonnen hatte. Und einige von uns, sollten nie die Gelegenheit haben herauszufinden, was ihnen ihre Zukunft gebracht hätte.
Wer Kontakte im Ausland hatte, zog sämtliche Register um Möglichkeiten zu finden das Land zu verlassen, was auf Grund der Sanktionen allerdings nicht einfach war. Sämtliche Botschaften waren mit Ausbruch des Krieges überfüllt und je länger der Krieg anhielt, umso mehr Menschen standen vor den Botschaften an. Sie wurden wie Tiere zusammengepfercht und genauso behandelt. Wer das Glück hatte noch am selben Tag die Botschaft zumindest betreten zu können, konnte nicht auch noch darauf hoffen, verrichteter Dinge wieder gehen zu können. Die Anforderungen für ein Touristenvisum waren exorbitant. Junge Leute wie wir, ohne feste Arbeitsstelle und ohne Perspektive waren dabei die schlechtesten Kandidaten überhaupt. Diejenigen, die Familie oder Arbeit hatten bzw. in irgendeiner Form gebunden waren, hatten da schon bessere Chancen. Von denen konnten sich die Behörden zumindest eine Rückkehr in ihr Heimatland erhoffen.
Wer das nötige Kleingeld hatte, konnte sich sein Visum auch einfach erkaufen. Natürlich nur unter der Hand. Korruption war ein Wort, was man sich nur denken, aber nie laut aussprechen konnte. Jene, die vom Krieg profitierten waren namentlich in der Stadt bekannt und hatten über Nacht wichtige Positionen eingenommen. Den Vorgängern wurde Hab und Gut genommen. Sie konnten sich glücklich schätzen, wenn sie im Anschluss noch ein Dach über dem Kopf hatten und am Leben waren. Das Gleiche passierte mit allen anderen wichtigen gesellschaftlichen, politischen und staatlichen Positionen bzw. Funktionen. Wer in der falschen Partei war, hatte darüber hinaus besonders schlechte Karten und konnte nur darauf hoffen, nicht in die Schusslinie zu geraten und mit dem Leben davon zu kommen.
Als der Strom abgestellt wurde und wir nur noch stundenweise Wasser hatten, stieg auch unsere Frustration eklatant an. Mit jedem Tag wurde uns bewusster, dass wir nichts hatten, worauf wir hoffen konnten. Statt abends auszugehen, saßen wir mit unseren Familien bei Kerzenlicht im Dunklen und konnten froh sein, wenn ein Transistorradio mit den neuesten Nachrichten wenigstens halbwegs die tödliche Stille überbrücken konnte. Vor allem die langen Nächte im Winter waren ohne Strom nahezu unerträglich. Wir organisierten uns soweit wie wir es konnten. Die Stadt war in unterschiedliche Sektoren, die für jeweils 6-8 Stunden täglich ohne Strom waren, aufteilt. Wer das Glück hatte, jemanden in einem anderen Sektor zu kennen, konnte zumindest dorthin fahren, um so wenigstens ab und an der Dunkelheit, Stille und Kälte zu entkommen. Über Monate hinweg wuschen und kochten wir mit Wasser aus Kanistern, Flaschen, Töpfen und anderen Gegenständen, die wir in weiser Voraussicht dann mit Wasser auffüllten, wenn die Leitungen wieder welches hergaben.
Auf Grund des Embargos brach die Wirtschaft nahezu vollständig ein. Grundnahrungsmittel wurden nur noch gegen Bons verteilt, wobei jede Familie auf eine beschränkte Menge Anspruch hatte. Milch bekamen nur diejenigen, die kleine Kinder hatten. Pro Haushalt standen außerdem 20 Liter Sprit zur Verfügung, welchen man jedoch nie zu Gesicht bekam, weil die Tankstellen über Monate hinweg keinen Sprit hatten. Der Schwarzmarkt und der damit verbundene Devisenmarkt boomten. Nahezu alles konnte man unter der Hand erwerben – wenn man denn das nötige Kleingeld dafür hatte. Die Inflation fraß nicht selten ein Monatsgehalt binnen Stunden auf und manchmal konnte man sich davon am Ende des Tages gerade noch eine Schachtel Zigaretten kaufen. Um sich halbwegs abzusichern, hoben die Menschen noch am Zahltag ihr Geld ab und liefen damit zum nächsten Devisendealer, um es in eine stabile Währung umzutauschen. Geld war nichts mehr wert. Binnen Monaten wurde es mehrfach neu gedruckt, zeitweise gab es sogar einen 2-Millionen-Schein, von dem man nicht einmal ein Kilo Brot kaufen konnte. Die Regale in den Supermärkten waren leer oder reihenweise mit ein- und demselben Produkt aufgefüllt. Sie hatten schlichtweg nichts zu verkaufen.
Wie Janek sich in diesen miserablen Kriegszuständen eine halbwegs vernünftige Wohnung und ein Auto leisten konnte, weiß ich bis heute nicht. Nicht selten lebten Erwachsene mit Ihren Eltern bis zu deren Tod unter dem gleichen Dach. Janek lebte alleine und das nicht einmal so schlecht. Und auch über ausbleibendes Geschäft konnte er sich nicht beklagen. Die kleine Boutique, die er nahe dem Zentrum führte und die vor allem für italienische Mode und Angora-Pullover bekannt war, lief recht gut.
Während anderswo Menschen starben, fuhr er mich in seinem Audi nach der Schule nach Hause. Nicht selten versteckte ich mich dabei, indem ich die Lehne vollständig runterließ. Die Stadt hatte überall Augen und Ohren. Ich konnte es mir nicht leisten, dass andere Mensch oder gar meine Eltern Wind von der Sache bekamen. Sie hätten es ohnehin nicht verstanden.
Janek hatte, vielleicht aus einer Vorahnung heraus, schon früh dafür gesorgt, dass ihm auch außerhalb des Landes Möglichkeiten offen stehen. Für gut 15.000 DM hatte er eine Freundin mit einem Schweizer verheiratet und wartete nun geduldig auf den Moment, da sie sich scheiden lassen und er sie heiraten konnte. Auf diese Weise wollte er seinen Weg außer Landes finden. In regelmäßigen Abständen fuhr er, soweit es die Sanktionen erlaubten, nach Ungarn, Italien und manchmal auch in die Schweiz und beschaffte dort die Ware für seine Boutique. Auch wenn er mich irgendwann als seine Freundin betrachtete, konnte ich nie mit ihm auf Reisen gehen. Wir machten nur ein einziges Mal sogenannten Urlaub, als er mich für ein verlängertes Wochenende mit nach Ungarn nahm. Mehr war ohne Visum ohnehin nicht möglich. Für mich war dieser Ausflug, als käme ich vom Regen in die Traufe. Ungarn war damals bei Weitem kein wirtschaftlich starkes Land, aber für mich war es das Land der unbegrenzten Möglichkeiten. Da ihn seine Reise weiter führte und ich nicht mitkommen konnte, blieb ich den Tag über in einem kleinen Hotel und vertrieb mir die Zeit mit Shoppen. Er hatte mir ein kleines Taschengeld überlassen, was umgerechnet zweifelsohne mehr war, als so manch ein Monatsgehalt zu Hause. Ich hatte es binnen weniger Stunden ausgegeben. In erster Linie für süße Stückchen, aber auch für Kosmetika und Unterwäsche. Die Diskussionen, die ich anschließend mit ihm hatte, habe ich bis heute nicht vergessen, trugen sie sich doch zum Teil auf der leergefegten Autobahn auf dem Weg nach Hause zu. Er war so wütend über meine Maßlosigkeit, dass er mich kurzerhand auf der Autobahn aussetzte, nur um mich wenige Minuten später wieder einzusammeln. Ich habe Jahre lang nicht verstanden, warum ausgerechnet er sich über das Geld aufgeregt hatte. Ihm ging es schließlich besser als den meisten von uns.
Monate nach unserem Kennerlernen gaben wir das Versteckspiel auf. Ich zeigte mich von da ab offen in seiner Gesellschaft. Mir war nie bewusst, wie viel das zu meinem Schutz beigetragen hatte. Denn auch er war in der Stadt bekannt wie ein bunter Hund und jeder wusste, dass ich mit ihm zusammen war. Was die Menschen in meinem Umfeld darüber dachten, habe ich nie erfahren. Aber es war sicherlich nichts Gutes, schon auf Grund des hohen Altersunterschiedes. Wahrscheinlich dachten sie, ich wäre mit ihm nur wegen des Geldes zusammen, doch Geld hat für mich nie eine Rolle gespielt. Er symbolisierte Normalität in all diesem Wahnsinn. Er stand für ein Leben, welches meine Generation und ich nicht führen konnten und auch nicht führen sollten. Er hellte die tristesten und düstersten Momente meines Lebens auf und bot Hoffnung, wenn meine Familie und ich im dunklen, kalten Keller saßen, während draußen der Luftalarm tobte.
Als ich mein Studium begann, keimte erneut die Hoffnung in mir auf. Viele meiner Klassenkameraden zogen gemeinsam mit mir von zu Hause aus. Wir fühlten uns nicht nur erwachsen, wir waren es auch, schließlich waren wir auf uns selbst gestellt. Wir konnten nicht jedes Wochenende nach Hause fahren, da die Fahrkarten viel zu teuer waren. Wie unsere Eltern unser Studium finanzierten, wussten wir nicht. Und wie sie die Miete für unsere Unterkunft – welche umgerechnet 100 – 150 DM betrug, bezahlten, auch nicht. Statt uns gesund und ausgewogen zu ernähren oder das eine oder andere Unimaterial zu besorgen, gingen wir lieber bis morgens um 5 aus. Wir holten alles nach, was uns vorher verwehrt blieb.
Aus dem anfänglichen Traum, mit Janek zusammen zu ziehen, wurde nichts. Er konnte die Stadt nicht verlassen, also sahen wir uns an den Wochenenden, manchmal auch unter der Woche, wenn ich an der Uni blau machte. Als wir etwa 2 Jahre zusammen waren, heiratete er die Freundin, die er damals gegen Geld mit einem Schweizer verkuppelt hatte. Wann immer sie zu Besuch war, war ich Tabu. Wenn sie weg war, führten wir unsere Beziehung ganz normal fort. Die Phasen ihres Besuches waren die schlimmsten Momente unserer Beziehung. Ich fühlte mich hintergangen und betrogen, obwohl er mich nie in dieser Hinsicht belogen hat. In den Ferien oder wenn er auf Reisen war, kümmerte ich mich ein wenig um seinen Laden, was makaber war, da unter seinen Angestellten auch die Schwester der Frau war, die er geheiratet hatte.
Als ich mich in das vierte Semester einschrieb, war der Krieg zu Ende und das Land schöpfte neue Hoffnung. Es war klar, dass wir noch Jahrzehnte mit den Nachwirkungen des Krieges zu kämpfen haben sollten, doch darüber wollte niemand so wirklich sprechen. Jeder wollte, dass es einfach mal voran geht – egal in welcher Hinsicht und wie sehr.
Janek war mit Ende des Krieges nicht mehr so häufig auf Reisen, vieles konnte abgewickelt werden, ohne dass er persönlich vor Ort sein musste. Auch wenn der Krieg zu Ende war, bot er mir weiterhin einen Zufluchtsort, wo ich Ruhe und Geborgenheit finden konnte. Ich hatte nie die Hoffnung aufgegeben, dass wir vielleicht doch eines Tages ein ganz normales Paar sein würden, doch im Nachhinein denke ich, dass das schlichtweg nicht unser Schicksal war. Ich hatte den Krieg überlebt, während andere ihr Leben dafür lassen musste und ich hatte meine große Liebe gefunden. Das war mehr als ich mir damals erträumt hatte, mehr als viele andere hatten.
Da sich die wirtschaftliche als auch politische Lage ein wenig gebessert hatte, wollte auch ich frühzeitig mein Glück in Sachen Ausland versuchen und vielleicht sogar nach meinem Studium auswandern. Also stand ich für ein Visum an und hoffte aufs Beste. Die Menschenschlangen hatten zwar etwas nachgelassen, aber man musste nach wie vor morgens um vier oder fünf vor der Botschaft sein, wenn man darauf spekulierte, noch am gleichen Tag seine Unterlagen abgeben zu können. Wochen später kam das Einladungsschreiben der Botschaft, in welchem man mir mitteilte, welche Dokumente ich für ein Visum vorzulegen hatte und wann ich erscheinen sollte.
An einem kalten, verschneiten Dezemberabend verließ ich in Lederjacke und Jeans und mit meinem Rucksack als Gepäck Janek und meine Heimat und kehrte erst viele, viele Jahre später das erste Mal zurück. Bis heute war ich noch einige weitere Male zu Hause, allerdings immer nur zu Besuch. Während dieser Zeit traf ich Janek genau ein einziges Mal. Wir taten beide so, als ob wir uns nicht kennen und starrten uns lediglich mit stummer Mine an. Die weit aufgerissenen Augen und der entsetzte, schmerzerfüllte Blick ließen vielleicht erahnen, dass uns einst etwas Wunderbares und Außergewöhnliches verbunden hatte.
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1 Kommentar:
Hallo, ein sehr guter Artikel über die Liebe. Hier kann man mit fühlen wie das Herz für einen schlägt auch noch nach Jahren, egal wo er ist oder was er macht.
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Du hast was zu sagen? Her damit! :)